EINFÜHRUNG Nach den Jahren am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar lebte und arbeitete Rudolf Steiner von 1897 an in Berlin und gab dort zunächst eine literarische Zeitschrift heraus. Beinahe sieben Jahre lang, bis 1905, unterrichtete Steiner an der Arbeiterbildungsschule in Berlin, hielt Vorträge zu philosophischen und zeitgeschichtlichen Themen und publizierte dazu. Um die Jahrhundertwende bekam er Kontakt zu deutschen Vertretern der Theosophie und intensivierte sein Engagement in diesen Kreisen allmählich. In diese Zeit fällt auch eine erste Begegnung mit der Holländerin Ita Wegman (1876 – 1943), die beruflich als Heilgymnastin (Physiotherapeutin würden wir heute sagen) tätig war, sich vielfältig in ihrem Beruf weiterbildete und auf Anraten von Steiner ab 1905 in der Schweiz Medizin studierte, was Frauen damals nur dort möglich war. Ita Wegman praktizierte danach viele Jahre lang als niedergelassene Ärztin in der Schweiz und gründete schließlich eine eigene Klinik, die bis heute in Arlesheim (Schweiz) besteht. Sie entwickelte ab den 1920er-Jahren gemeinsam mit Rudolf Steiner eine den Menschen in all seinen Wesensgliedern ernst nehmende, ganzheitliche Medizin, die in drei Kursen 1920, 1921 und 1924 interessierten Ärzten und Jungmedizinern vermittelt wurde. Bei vielen medizinischen Fallbesprechungen arbeiteten Wegman und Steiner zusammen. Gemeinsam verfassten sie in Steiners letzten Lebensmonaten 1924/25 das Buch »Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen«. Der an der Klinik in Witten/Herdecke tätige Kinderarzt Alfred Längler stellt im folgenden Beitrag Grundzüge der Arbeitsweise eines anthroposophisch orientierten, ganzheitlich praktizierenden Arztes vor. ››› Manon Haccius I M P R E S S U M Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie Teil 5: Anthroposophische Medizin Autor: Alfred Längler Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de Copyright © 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt Druck: alpha print medien AG, Darmstadt Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil des Werks darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig.
ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN ALFRED LÄNGLER Anthroposophische Medizin? Das klingt irgendwie exotisch. Was ist das eigentlich? Was macht die Anthroposophische Medizin anders als die »normale«, die Schulmedizin? Und was hat das alles mit Rudolf Steiner zu tun? Fragen über Fragen, die immer mehr Menschen interessieren. Anthroposophische Ärztinnen und Ärzte sind extrem begehrt, die Wartezimmer sind voll. Und auch in den anthroposophisch orientierten Kliniken merken die Patienten, dass es die Anthroposophische Medizin versteht, wirklich individuell auf den Menschen einzugehen. Bekannt ist vor allem die anthroposophische Geburtshilfe, die mit ihrem »sanften« Ansatz und ihrem respektvollen Umgang mit Eltern und Kind immer mehr Befürworter findet. Und auch bei der Begleitung von unheilbar Kranken und Sterbenden hat sich die Anthroposophische Medizin wegen ihres sensiblen und spirituell offenen Umgangs mit dem Leben an der Schwelle zum Tod eine große Reputation erarbeitet. Darüber hinaus aber kennt die Anthroposophische Medizin inzwischen fast alle fachärztlichen Spezialisierungen – vor allem aber die Allgemeinmedizin, die Innere Medizin, die Gynäkologie / Geburtshilfe sowie die Kinder- und Jugendmedizin. Wie arbeitet die Anthroposophische Medizin denn nun konkret? Nun, zum einen sind anthroposophische Ärzte »normale« Mediziner mit Approbation und Facharzttitel. Zum anderen haben sie sich zu den Inhalten der Anthroposophischen Medizin weitergebildet und sind zertifiziert worden. Gerade diese doppelte Kompetenz von natur- und geisteswissenschaftlicher Ausbildung ist jedoch vielen Patienten nicht klar. Im Gegenteil: Oft wird die Anthroposophische Medizin als »Alternativmedizin«, also als Alternative zur Schulmedizin, missverstanden. Dabei soll die Schulmedizin nicht ersetzt, sondern vielmehr durch Erkenntnisse aus der anthroposophischen Menschenkunde ganz bewusst erweitert werden. BEZÜGE ZWISCHEN MENSCH UND NATUR ERKENNEN Für diese Erweiterung bildet die von Rudolf Steiner (siehe Textkasten rechts) in vielen Vorträgen und Schriften dargelegte geisteswissenschaftliche Menschenkunde die Grundlage. Steiner hat ein umfassendes Verständnis der menschheitlichen Entwicklung erarbeitet und diese in einen Gesamtzusammenhang von kosmischen und irdischen Einflüssen gestellt. Das Wesen des Menschen kann demnach nur im Zusammenhang mit der ihn umgebenden Natur verstanden werden. Diese evolutionäre Verwandtschaft zwischen Mensch und bestimmten Naturprozessen wird in der Anthroposophischen Medizin zu therapeutischen Zwecken gezielt genutzt. Ein einfaches Beispiel: Betrachtet man die Pflanze Zaunrübe (Bryonia) genauer, fällt ihre ganz besondere »Wachstumsgeste« auf: In ihrer Wurzel (Rübe) sammelt sie die Flüssigkeit der Umgebung und bringt diese in eine Form. Sie kann Daten und Fakten zur Anthroposophischen Medizin Der Begriff »Anthroposophie« setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern »anthropos«, der Mensch, und »sophia«, die Weisheit. Damit steht der sich selbst erkennende Mensch auch in der Medizin im Mittelpunkt. Das umfassende Menschenbild, das der Anthroposophischen Medizin zugrunde liegt, ermöglicht es dem Arzt, die Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele besser zu verstehen. Dabei wird zwischen den vier sogenannten Wesensgliedern unterschieden: Körper (physischer Leib), Lebensorganisation (Ätherleib), Seelenorganisation (Astralleib) und Ich-Organisation (geistige Individualität). Sind die Wechselwirkungen zwischen diesen vier Ebenen gestört, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht und erkrankt. Mittlerweile hat die Anthroposophische Medizin eine fast 100-jährige Tradition und wird heute in über 80 Ländern weltweit praktiziert. Gemeinsam mit der Ärztin Ita Wegman (1876 – 1943) entwickelte Rudolf Steiner (1861 – 1925) Anfang des vergangenen Jahrhunderts das integrative Konzept dieser besonderen Medizin. Seit 1976 ist die Anthroposophische Medizin im Arzneimittelgesetz als »Besondere Therapierichtung« und seit 1989 als medizinische Richtung im Sozialgesetzbuch V gesetzlich verankert und anerkannt. Anthroposophische Ärzte absolvieren nach ihrer Approbation als Arzt oder nach ihrer Facharztausbildung eine mindestens dreijährige Aus- und Weiterbildung zu den besonderen Schwerpunkten der Anthroposophischen Medizin. ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN 3
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