GESELLSCHAFT Runter vom (Ab-)Gas! Zu viele Autos stehlen uns Platz, Zeit und Luft zum Atmen. Besonders Diesel fahrzeuge gefährden mit ihren hohen Stickoxid-Emissionen unsere Gesundheit – die Schummeleien der Autobauer haben einiges ans Licht und ins Rollen gebracht. Wie schaffen wir die Verkehrswende? K ennen Sie den »Rasenden Roland« auf Rügen oder die Harzer Brockenbahn? Die historischen Dampflok-Eisenbahnen gelten als Touristenattraktionen. Trotzdem wünscht sich wohl kaum jemand das Zeitalter der stinkenden, dreckigen Dampfrösser zurück. Ähnlich wird unsere Gesellschaft in Zukunft über Autos mit Auspuff denken. Die Jungen werden die Älteren fragen: »Wie habt ihr diese jahrzehntelange Luftverpestung bloß ausgehalten?« Und die Älteren werden hustend mit den Schultern zucken. Die Zeit ist reif für eine Verkehrswende und Greenpeace setzt alles daran, sie zu beschleunigen. Ein politisches Ziel der Umweltschützer ist es, dass ab 2025 keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. »Kurzfristig müssen die schlimmsten Verkehrssünder sauber gemacht – oder notfalls aus dem Verkehr gezogen – werden: Dieselfahrzeuge«, fordert der Greenpeace-Mobilitätsexperte Benjamin Stephan. »Die Abgas-Manipulationen von Volkswagen und anderen Konzernen sind vor allem deshalb ein Skandal, weil sie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen. Stickoxide aus Diesel mot oren erzeugen unter anderem Asthma und Krebs. Laut der Europäischen Umweltagentur gehen jedes Jahr mehr als 10 000 vorzeitige Todesfälle in Deutschland auf das Konto erhöhter Stickstoffdioxidwerte.« Kein Wunder: Der von der EU festgelegte Jahresgrenzwert von im Schnitt 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid (NO2) pro Kubikmeter Luft wird in fast 70 deutschen Städten überschritten. Greenpeace hat mehrfach auch abseits offizieller Messstellen nachgemessen – so im Frühjahr 2017 vor 143 Kitas und Schulen in Berlin, Frankfurt und anderen Städten: Bei zwei Dritteln der Standorte lagen die NO2-Gehalte über der Grenze, an einigen fast doppelt so hoch. Die Autoindustrie und eine allzu Autoindustrie-freundliche Politik haben bisher versagt. Auch neue Euro-6-Diesel überschreiten die gesetzlichen Stickoxid-Limits im Schnitt um das Sechsfache. »Software-Updates reichen zur notwendigen Reduk tion bei Weitem nicht aus«, betont Benjamin Stephan. »Und wirksame Hardware-Nachrüstungen mit SCR-Katalysatoren sind teuer – die Hersteller tun alles, um sie zu umgehen. Insofern sind innerstädtische Fahrverbote für Diesel, die die geltenden Grenzwerte auf der Straße nicht einhalten, leider unumgänglich. Vorfahrt sollte immer die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger haben.« Aktuell verursacht der Verkehrssektor ein Fünftel der CO2- Emissionen unseres Landes. BMW, Daimler, VW und Co. müssen ihre Entwicklung jetzt auf Elektrofahrzeuge konzentrieren. Flankierend ist eine rasche Energiewende nötig, denn mit der Elektrifizierung steigt der Bedarf an klimafreundlichem Ökostrom. »Allerdings dürfen wir nicht den Fehler machen, alle 45 Millionen Diesel und Benziner eins zu eins durch E-Autos zu ersetzen. Für eine nachhaltige, ressourcenschonende Mobilität brauchen wir insgesamt weniger Autos, die effizient und von möglichst vielen Menschen genutzt werden«, so Stephan. In Ballungsräumen ist eine »Auto-Diät« am ehesten machbar. Eine Umfrage des Umweltbundesamts 2014 ergab: Vier von fünf Deutschen wünschen sich einen Umbau der Städte dahingehend, dass alle Wege bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln, per Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden können. Gemeinsam mit visionären Stadtplanern hat Greenpeace konkrete Mobilitätskonzepte entwickelt. So entstand mit Gehl Architects eine Gesamtstrategie »Rollenwechsel« mit Positivbeispielen aus aller Welt – etwa aus Europas Fahrradhauptstadt Kopenhagen; mit Urban Catalyst ein »Konzept für nachhaltige Mobilität in Berlin« und mit der Agentur Urbanista 36 Alnatura Magazin 11.2017
ANZEIGE wurde das Maßnahmenpaket »Im Kern gesund« geschnürt. Jede Stadt ist anders und braucht individuelle Pläne. Doch einige Punkte gelten grundsätzlich für alle. Zum Beispiel müssen die ÖPNV-Netze engmaschiger gestaltet und klug mit Carund Bikesharing-Stationen verknüpft werden. »Der Umstieg von einem Gefährt zum nächsten muss ohne weite Wege und längere Wartezeiten funktionieren, damit der Anreiz, doch lieber das Auto zu nehmen, entfällt«, erläutert der Greenpeace-Campaigner. »Zu einem intelligenten Angebot gehört auch, dass Kunden mit einer einzigen SmartCard oder App den gesamten Mobilitätspool bargeldlos nutzen können. Das Hamburger ,switchh’-System ist hierfür ein gutes Beispiel«, fügt Stephan hinzu. Für den Verkehr per pedes und Rad gilt: Breite, glatte und hell beleuchtete Wege wirken erstens einladend und sorgen zweitens für Sicherheit. Wer will schon einen Hindernisparcours bestreiten oder sich in schummerige Unterführungen wagen? In Berlin engagiert sich der »Volksentscheid Fahrrad« für sicheres, entspanntes Radeln in der City und brachte mit gut 105 000 Unterschriften im Rücken ein »Gesetz zur Förderung des Radverkehrs« auf den Weg. Die Initiative fordert unter anderem den Ausbau und die Sanierung des Wegenetzes und 100 000 neue Stellplätze für die Drahtesel. Noch wird dem rollenden und ruhenden Autoverkehr fast überall Priorität gegeben. Schon die örtliche Verringerung von Fahrspuren und Parkplätzen würde die Lebensqualität in der Stadt verbessern. Der zurückeroberte Raum ließe sich vielfältig nutzen: Neue Sitzgruppen laden zum Verweilen ein, Kinder freuen sich über eine Sandkiste, Pflanzenfreunde über Hochbeete und Sportliche über einen Platz zum Kicken oder Boule-Spielen … ››› Gastbeitrag Greenpeace e. V. Mit der Aktion »You turn the Street« zeigt Greenpeace im September 2016, wie sich Innenstädte verkehrsberuhigen und zu Wohlfühloasen umwandeln lassen. Sind auch Sie ein Stadtmensch und haben Sie Staus, Lärm, dicke Luft und die omnipräsenten Blechkisten satt? Dann setzen Sie sich für Veränderungen ein! Gründen Sie eine Bürgerinitiative, beantragen Sie ein Tempolimit in Ihrer Straße, sammeln Sie Unterschriften für eine autofreie Zone in Ihrem Viertel oder: Tun Sie sich mit möglichst vielen Nachbarn zusammen und teilen Sie sich künftig einen deutlich reduzierten Autobestand. Nicht jeder braucht ein eigenes! Statt stundenlang um den Block zu fahren, um einen Parkplatz zu suchen, können Sie dann lieber mit Ihren Nachbarn nett zusammensitzen – vielleicht zum Kaffeeklatsch mit Campingstühlen in einer herrlich breiten Parklücke? VIELE VERSTEHEN DAS HANDWERK, NUR WENIGE DIE KUNST DER KÖRPERPFLEGE Bild: Apfel-Kiwi_Cocos-Vanille (Detail), Öl auf Leinwand, © Krassimir Kolev 2016 www.styx.at
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