SÜDDEUTSCHE ZEITUNG FAMILIE Einatmen, ausatmen Yoga, Kreativarbeit, Bewegungstherapie: Schon lange gehören zur Mutterschaft auch Frauen-Aufpäppel-Anstalten. Und, was machst du an deinem sturmfreien Wochenende?«, fragte mich eine Freundin. Ich überlegte. Wagte ich, es zuzugeben? »Nichts«, flüsterte ich verschwörerisch. »Gar nichts.« Der Schrecken in ihrem Gesicht wäre nicht größer gewesen, hätte ich angekündigt, mir eine Stripperin zum Butterbrezel-Futtern einzuladen. »Du solltest dir vielleicht mal überlegen, auf Kur zu fahren«, meinte sie schließlich nachdenklich. Ich konnte ihr die Idee nicht verübeln: Unser Zeitalter macht es möglich, das ganze Jahr Ananas zu essen, Auto zu fahren und dabei zu telefonieren, in Nortrup zu sitzen und mit Singapur zu verhandeln. Aber ein Frauenleben, in das Arbeit, Familie und die Freiheit, etwas Eigenes oder auch nichts zu tun, hineinpassen, ist eine so dermaßen komplexe Angelegenheit, dass es ganz schön oft mit einer Krankschreibung endet. Das Müttergenesungswerk schätzt, dass zwei Millionen Frauen in Deutschland Bedarf für eine Mütterkur haben, fast 50 000 Frauen und 1 600 Männer vermittelte die Organisation 2016 an Kurkliniken. Viele sind alleinerziehend. Es sind Menschen, die einen Arzt brauchen, der ihnen ein Zeitfenster für das Nichts verordnet. Es sind ganz normale Eltern. Als mein Sohn zwei Jahre alt war und sich prima allein beschäftigen konnte, fiel mir irgendwann auf, dass er das immer nur dann tat, wenn auch ich beschäftigt war – und zwar im eher traditionellen Sinn: Solange ich kochte oder aufräumte, glaub te er mir, dass ich et was zu tun hatte. Sobald ich lesen oder fünf Minuten nichts tun wollte, zeigte er vehement, dass es Zeit war, mit ihm Bücher zu lesen oder zu spielen. Damit reproduzierte mein Klein kind völlig unschuldig die Erwartungen der Allgemeinheit an die moderne Mut ter: Denn die hat, wenn sie auch nur einen Bruch teil davon zu erfüllen gedenkt, nur die Wahl, sich permanent beruflich und privat zu betätigen – oder auf ihr Umfeld unge wöhn lich bis unbeliebt zu wirken. Das hat sicherlich auch etwas mit den eigenen Ansprüchen zu tun. Aber was ist von einer Gesellschaft zu halten, der gegen Elternüberforderung nur ein gesetzlicher Therapieanspruch einfällt? Es läuft etwas nicht ganz richtig, wenn für moderne Elternschaft ähnliche Behandlungsmethoden notwendig werden wie für eine chronische Erkrankung. Die Mehrheit der Frauen mit Kindern geht einer Erwerbstätigkeit in Voll- oder Teilzeit nach. Aber dazu kommt noch die unbezahlte Arbeit in Form von Kinder betreuung, Angehörigenpflege und Haushalt. Frauen machen davon 80 Prozent mehr als Männer, 164 Minuten gegenüber 90 Minuten am Tag. Teilzeitbeschäftigte Mütter, schreibt die Hans- Böckler-Stiftung, wenden fast 70 Prozent ihrer Gesamtarbeitszeit für die sogenannte Familienarbeitszeit auf. Selbst – oder vielleicht auch gerade – in gleichberechtigten Partnerschaften ist das nicht anders. Eltern arbeiten heute 42 Alnatura Magazin Dezember 2018
Ein Heft für Sie – und Ihre Kinder! Die Geschichte in voller Länge finden Sie im Magazin »Süddeutsche Zeitung Familie«, das es ab jetzt am Kiosk oder im Abo zu kaufen gibt – und auch ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für Familien ist! »Süddeutsche Zeitung Familie« besteht aus zwei Teilen, einem für Kinder und einem für Erwachsene. Die Hefte können nebeneinander und miteinander gelesen werden. Das Kinderheft eignet sich für Kinder ab vier Jahren und ist komplett werbe frei. Unter sz.de/alnatura können Sie eine Testausgabe gratis bestellen! dem zu entgehen, gründeten zwei reiche Gattinnen im Jahr 1963 in Kalifornien das sogenannte Every Woman’s Village, eine Art Freizeittreffen für Frauen, die nach der Phase der Kinder versorgung nun endlich wieder Zeit hatten, darüber nachzudenken, was sie eigentlich interessierte. »Viele Hausfrauen sind genauso wenig dazu in der Lage, für ihr Leben zu planen, wie ein fünfjähriges Kind«, schrieb eine Journalistin des LIFE Magazine, die über das Village berichtete. deutlich mehr als vor einigen Jahrzehnten, sagt der Familienforscher Hans Bertram – aber Eltern verbringen trotzdem mehr Zeit denn je mit ihren Kindern. Die Zeit, die sie sparen, sparen sie bei sich. Sie sparen an den eigenen Interessen und natürlich am Nichts. Die überarbeitete Mutter ist mitnichten ein Phänomen der Gegenwart oder ein Produkt der Gleichberechtigung. Das Müttergenesungswerk wurde 1950 von der Frauenrechtlerin Elly Heuss-Knapp gegründet. Damals waren das Kernklientel Frauen, die Krieg und Flucht erlebt hatten, die allein für mehrere Kinder sorgten, zu Hause traumatisierte Veteranen pflegten oder Gewalt durch die Besatzer erfahren hatten. Die Aufgabe der Kur: die Mutter so wiederherzustellen, dass sie ihre Aufgaben im Alltag erfüllen kann. Frieden und Wohlstand änderten an der Problemlage nichts, sie gaben ihr nur ein anderes Antlitz: In den fetten 60er- und 70er-Jahren kam in den USA die Diagnose »Bored Housewife«- Syndrom auf, für Frauen, die so dermaßen in der Hausarbeit gefangen waren und so sehr unter dem Mangel an intellektueller, sportlicher oder künstlerischer Betätigung litten, dass sie in Alkoholismus und Tablettensucht abdrifteten. Um Heute muss man weder einen Krieg überlebt noch in der Haus frauenschaft gefangen sein, um zum Fall für die Mütterkur zu werden. Es reicht schon ein gewöhnliches Leben im Clinch der individuellen, familiären und gesellschaftlichen Ansprüche. Auch der schamhafte Anstrich der Kur ist zum Glück gewichen: Es herrscht ja Kon sens, dass die Gegenwart überfordernd und stressig für viele ist. Es herrscht aber auch nach wie vor Konsens, dass Grundbedürfnisse von Frauen, die nicht ihrer Familie oder dem Wirtschaftsleben dienen, etwas sind, was aus dem Alltag ausgelagert werden muss. Viele Frauen, die heute zur Kur fahren, sagt Petra Gerstkamp vom Müttergenesungswerk, müssten vor allem wieder lernen, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. »Sie finden in der Kur heraus, was sie brauchen und wie sie Verantwortung an ihre Kinder abgeben können, an ihre Partner oder Familien.« Die Mütterkur ist also faszinierenderweise Symptom eines Problems und der erste Schritt zur Lösung. Gut, dass es sie gibt – aber schon schade, dass es sie braucht. ››› Gastbeitrag Meredith Haaf Alnatura Magazin Dezember 2018 43
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