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Teil 3/12: Freiheit

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Anthroposophische Perspektiven - In dieser Aufsatzreihe stellen Autoren beispielhaft Perspektiven der Anthroposophie auf das Lebensgebiet ihrer Berufspraxis vor.

DIE PRAXIS DES ETHISCHEN

DIE PRAXIS DES ETHISCHEN INDIVIDUALISMUS Vor etwa 50 Jahren hat in unserer Gesellschaft ein »Individualisierungsschub« eingesetzt (Ulrich Beck und andere). Bis ins Einzelne hinein ist zu beobachten, wie früher allgemein anerkannte Werte ihre Verbindlichkeit verlieren und den einzelnen Menschen mit seinen Lebensentscheidungen auf sich selbst stellen, beispielsweise bei der Berufsfindung, beim Lebensstil, in Fragen der Partnerschaft oder der Erziehung der Kinder. Diese Situation wird von vielen Menschen als Überforderung empfunden, sodass man die rasante Zunahme der psychischen Erkrankungen in den vergangenen Jahrzehnten, die Zunahme von Sucht und Orientierungslosigkeit auch als Folge der Individualisierung betrachten kann (Ehrenberg). Es bleibt uns als einzelnen Menschen gar nichts anderes übrig, als uns möglichst weitgehend auf uns selbst zu stellen, um sinnvoll im Ganzen handeln zu können. Dadurch kommt dem ethischen Individualismus, vor mehr als einhundert Jahren entworfen, heute eine existenzielle Bedeutung zu. Wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Was er in der Praxis der Gegenwart leisten kann, sei im Folgenden an einigen Beispielen angedeutet. »Wir erleben Liebe und Freiheit zwischen Geburt und Tod. Sie sind nichts anderes als die menschlichen Widerklänge von kosmischen Kräften, denn mit aller Geburt hängt die kosmische Liebe zusammen, mit allem Sterben hängt die kosmische Freiheit zusammen.« Rudolf Steiner im Vortrag am 11. 12. 1920 INDIVIDUALITÄT Die gesellschaftlich wirksam gewordenen Menschenbilder der letzten einhundert Jahre gehen zu einem Großteil von der Vorgeprägtheit (Determiniertheit) des Menschen aus. Für die einen steht mehr die körperlich bedingte »genetische« Determination im Vordergrund. Diese Sichtweise ist heute wieder auf dem Vormarsch und liegt den Marketing- und Werbestrategien zugrunde. So spricht ein renommiertes Handbuch mit dem Titel »Konsumentenverhalten« (Kroeber-Riel) von der »Ideologie vom souveränen und vernünftigen Menschen«, die uns nicht unsere »tierische Abstammung« vergessen lassen sollte. Gefühle (zum Beispiel »Liebe«) werden auf »reizgebundene Hormonausschüttungen« zurückgeführt. Das sollten wir, so Kroeber-Riel, akzeptieren und uns widerstandslos als »Konsumäffchen« verhalten. – Eine zweite Determination des Menschen betrifft seine Seele. Die Erforschung der frühkindlichen Prägung hat gezeigt, dass seelische Stabilität, Sozialfähigkeit und Intelligenzentwicklung des Menschen bis ins höhere Lebensalter davon abhängen, wie das Kind von seiner Mutter (beziehungsweise Bezugsperson) in den ersten Lebensjahren behandelt worden ist. Konnte es in dieser Zeit ein stabiles Selbst- und Weltvertrauen gewinnen? – Auch die Annahme einer geistigen, oft als »gesellschaftlich« bezeichneten Prägung ist weitverbreitet: Die Werte und Verhaltensweisen, die ich im Elternhaus, in der Schule oder in meinem Berufsleben aufnehme, leiten mich in meinem ganzen weiteren Leben. – Alles zusammen genommen, werde ich durch die leiblichen, seelischen und geistigen Prägungen sozusagen »ganzheitlich vereinnahmt«. Demgegenüber erhebt sich jedoch die Frage, ob ich als Erwachsener durch diese Prägungen schon vollständig bestimmt

»Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen.« Rudolf Steiner (determiniert) bin oder ob ich mich trotzdem aus eigenem Antrieb zum »freien Geist« entwickeln kann. Letzteres wird heute offensichtlich von immer mehr Menschen gewünscht oder sogar beansprucht. Angesichts der Hirnforschung ist zum Beispiel der Streit um die »Willensfreiheit« des Menschen neu entflammt. Und im Hinblick auf den rasanten Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und die wachsende Diskontinuität der Lebensläufe können determiniert erscheinende Verhaltensweisen (zum Beispiel durch ethnische oder religiöse Werte) geradezu in soziale Katastrophen führen (vergleiche zum Beispiel die gegenwärtige Diskussion um die Wertvorstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft). Der ethische Individualismus bietet eine Grundlage, um die Potenziale des »freien Geistes« ausschöpfen zu lernen und dadurch auch ein neues Verhältnis zu den Mitmenschen zu gewinnen. ORIGINALITÄT Ein zweiter Gesichtspunkt: Im Zeitalter der Individualisierung können wir auf Dauer nicht mehr allein auf Grundlage derjenigen Fähigkeiten leben, die wir vor Jahren »gelernt« haben. Wir sind bereits heute in hohem Maße darauf angewiesen, unsere Lebenssituationen stets von Neuem originell und kreativ zu meistern. Da genügt weder Wissen noch Schlüsselqualifikation. Situatives Handeln fordert Originalität. Wir müssen – und das oftmals blitzschnell – entscheiden, was der Augenblick verlangt. Gegenüber unseren eingefleischten »Denkmodellen« sind wir in einer zwiespältigen Lage: Auf der einen Seite können sie uns anregen, auf der anderen Seite können sie uns fesseln. Anregen dann, wenn wir sie durchschauen; fesseln, wenn das nicht der Fall ist. Wie finde ich hier meinen Weg? Die »Philosophie der Freiheit« zeigt, dass rationales und intuitives Denken sich gegenseitig bedingen. Schon Platon wusste, dass auch rationales Denken seinen Ursprung in der Intuition hat. Diskursives (absicherndes, beweisendes) und intuitives (erneuerndes, gestaltendes) Denken hängen zusammen. Heute muss aus diesem Zusammenhang eine individuelle Fähigkeit entstehen, wenn man »aus sich selbst heraus« handeln will. Darin verwirklicht sich eine integrative Autonomie, in der individuelle Freiheit und soziale Gestaltungsfähigkeit keine Gegensätze sind. SOZIALITÄT Eine weitere Konsequenz des ethischen Individualismus ist die Gemeinschaftsfähigkeit des freien Geistes. Der freie Geist grenzt die anderen Menschen nicht aus; er bezieht sie ein. Er ist aus sich selbst heraus sozialfähig. Dem egozentrischen Selbst hingegen muss Sozialfähigkeit von außen durch Regeln, Normen oder Anweisungen beigebracht werden. Egozentrik ist insofern eine Lebensform der Unfreiheit. – Aus dem ethischen Individualismus ist eine neue soziale Ordnung zu gewinnen. Sie wurde beispielsweise inzwischen ausgearbeitet unter der Bezeichnung »Dialogische Kultur« (»Dialogische Führung«). Mit deren Hilfe kann die Zusammenarbeit auch in größeren Unternehmen und Organisationen auf einen neuen Boden gestellt werden. Dialogische Kultur hat vier Eckpfeiler, aus denen »dialogische Prozesse« der Zusammenarbeit entstehen können: Das Zutrauen zum individuellen Menschen, unabhängig von seiner Rolle im Unternehmen; die eigenständige Urteilsfähigkeit jedes HANDELN AUS SICH SELBST HERAUS 7

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