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Teil 3/12: Freiheit

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Anthroposophische Perspektiven - In dieser Aufsatzreihe stellen Autoren beispielhaft Perspektiven der Anthroposophie auf das Lebensgebiet ihrer Berufspraxis vor.

WIE GELINGT FREIES

WIE GELINGT FREIES HANDELN? Wie kann ich es bewerkstelligen, dass mir freies Handeln gelingt? Die »Philosophie der Freiheit« greift zurück auf einen in der Geistesgeschichte bereits bekannten Begriff, fasst ihn aber in einem spezifischen Sinne neu: »der freie Geist«. Dieser kommt zur Erscheinung, wenn und soweit der Mensch sich den »letzten Schliff« (siehe oben) selbst gibt. Die Rückschau lehrt, dass wir auf unserem Weg zum »freien Geist« mit zwei Gegebenheiten zu kämpfen haben: Mit unserer leiblich-seelischen Organisation einerseits (ihren Triebkräften, Vorlieben, Verhaltensgewohnheiten et cetera) und mit der Neigung zu allgemeinen Festlegungen andererseits (Regeln, Normen, moralische Vorschriften et cetera). Wir wissen manchmal recht gut, was jetzt »richtig« wäre – aber wir haben »keine Lust«, entsprechend zu handeln, lassen uns ablenken oder verschieben die Sache auf morgen. Oder wir sehen uns einem allgemein akzeptierten Anspruch ausgesetzt, den wir für den vorliegenden Fall aber nicht passend finden. Wir befolgen ihn dennoch, denn »es muss ja eine Ordnung geben«. Sonst regierte doch die subjektive Willkür der Einzelnen! Weder in dem einen noch in dem anderen Fall sind wir ganz bei uns selbst. Gibt es andere Möglichkeiten? Erstmals 1894 veröffentlicht: Rudolf Steiners »Philosophie der Freiheit« (1. Auflage: 1.000 Stück, bis heute über 300.000 mal gedruckt). Die »Philosophie der Freiheit« zeigt auf, wie der subjektiven Befindlichkeit ebenso zu entkommen ist wie der Gefangenschaft im Prinzipiellen. Der in der »Philosophie der Freiheit« aufgezeigte Weg zum »freien Geist« beginnt mit Selbsterkenntnis. Wir bemerken beispielsweise seelische Gestimmtheiten, die unabhängig von den konkreten Situationen gleichbleibend auf uns wirken. Wir bemerken möglicherweise eines Tages auch leicht irritiert, dass wir mit einem halben Dutzend »Grundgedanken« auskommen, denen wir in geschickten Kombinationen alle Widerfahrnisse des Lebens unterwerfen. Oder dass Gedanken, die wir für unsere eigenen hielten, in Wirklichkeit von Millionen anderen geteilt werden (»öffentliche Meinung«). Manche unserer Gedanken haben wir vielleicht sogar einmal eigenständig gedacht, sie sind aber inzwischen zu festen Vorstellungen, zu Ablagerungen unseres Bewusstseins geworden und grundieren von da her unser aktuelles Denken. – Die »Philosophie der Freiheit« zeigt auf, wie dem Gefängnis der subjektiven Befindlichkeit ebenso zu entkommen ist wie der Gefangenschaft im Prinzipiellen. Sie zeigt Wege des energischen, sich seines Ursprungs versichernden Denkens (»reines Denken«). Wer sein Denken nur dazu benutzen wollte, sogenannte »Tatsachen« zu systematisieren, ließe große Potenziale brachliegen. Durch ein entsprechendes Denken kann ich Neues entdecken und Wirklichkeit gestalten. Ich kann damit nicht nur physische, sondern auch lebendige, seelische und geistige Wirklichkeit erfassen. »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar« (Antoine de Saint-Exupéry). Gemeint ist: das Wesentliche in allen Dingen, auch den sichtbaren. MORALISCHE INTUITION In dem Maße, in dem es uns gelingt, Gedankensedimente und emotionale Vorlieben aufzulösen, bekommt der geistige Fluss des Augenblicks, die »Geistesgegenwart«, ihre Chance. Die »Philosophie der Freiheit« spricht hier von »Intuition«; und insofern diese dem Handeln zugrunde liegt, von »moralischer Intuition«. »Intuition« wird heute oftmals verwechselt mit »Bauchgefühl« und ähnlichem. In der Geistesgeschichte ist sie jedoch charakterisiert als plötzliches, evidentes Auftreten eines Gedankens. Im Grunde haben wir alle ständig Intuitionen, aber wir bemerken sie nicht, weil unsere Vorstellungswelt die Aufmerksamkeit beansprucht. 4

Ist also Handeln aus Intuition so etwas wie Willkür? Keineswegs. Intuition ist kein subjektiver »Einfall«, sondern bezieht die Situation samt ihrem Umfeld mit ein – so wie ein Blitz die gesamte Landschaft, die im Dunkeln liegt, für Augenblicke erhellt. Auf ähnliche Weise setzt »moralische Intuition« die Ursprungskraft des Menschen, seine Originalität frei. Dabei werden die Umstände, das Umfeld und die »Rahmenbedingungen« nicht beiseite geschoben. Die Antriebe des Handelns aus »moralischer Intuition« zu beziehen, heißt bei Steiner »ethischer Individualismus«. Dieser steht im Gegensatz zu der gewohnten normativen Ethik, bei der alles Handeln sich Regeln und Denkmustern fügt. Selbst wenn diese sorgfältig konzipiert sind, haben sie unabwendbare Nachteile: Sie sind, wenn der Augenblick des Handelns kommt, immer »von gestern«. Sie können die aktuelle Situation nicht wirklich erfassen. Außerdem handelt der Mensch dann nicht als Individuum (und somit »frei«), sondern er funktioniert als Schnittstelle allgemeiner Prinzipien. Diejenigen, denen es auf originelles und individuell verantwortetes Handeln ankommt, wie zum Beispiel Künstler und Unternehmer, versuchen deshalb, die Maßstäbe ihres Handelns eher selbst zu setzen als auf vorhandene zurückzugreifen. Der ethische Individualismus Steiners kann jeden Menschen dazu anregen, aus moralischer Intuition zu handeln. Von ähnlichen philosophischen Konzepten unterscheidet er sich unter anderem dadurch, dass die Wirklichkeit nicht ausgeblendet wird. Daher wurde oben die Bezeichnung »situative Autonomie« gewählt. Der Mensch zieht sich nicht aus der Situation zurück, in der er steht. Der Grad meiner Freiheit hängt nicht davon ab, ob ich irgendwelchen Einflüssen oder Ansprüchen ausgesetzt bin, sondern davon, wie ich mit ihnen umzugehen vermag. Meine Freiheit ist nicht eine Freiheit der Distanzierung, sondern der Integration. »Der Mensch fühlt das Denken wie ein Atmen, aber wie ein Atmen im Lichte.« Rudolf Steiner im Vortrag am 24. 11. 1923 HANDELN AUS SICH SELBST HERAUS 5

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